Druck rausnehmen

[Auch lesenswert für Menschen ohne Pferde.]

Heute bin ich mit Tina, meiner jüngeren Stute die Form „Kleeblatt“ geritten. Nichts besonderes. Und doch etwas besonderes! Ohne Sattel, ohne Zaum und ohne Zügel, nur mit einem weichen Arbeitsseil, das ich manchmal benutze wie einen Balancezügel. Einen Balancezügel sieht man auf den Fotos unten, die Ende letzten Jahres entstanden.

Tina, eigentlich Salmantina, ist seit zweieinhalb Jahren bei mir. In ihrem Leben davor hat sie in den Händen von fünf verschiedenen spanischen Besitzern und einem Händler wohl viel Druck erfahren. Ihr Körper und ihr Verhalten haben das deutlich gezeigt.

In der ersten Zeit bei mir hat sie sich mal vor einem Trecker erschrocken, der aus einem Seitenweg hervor unvermittelt und recht zügig vor uns auf die Straße kam, zudem von ihrer blinden Seite – sie kann nur mit dem linken Auge sehen. Sie hat sich in Panik fast losgerissen, es gelang mir aber, sie an Halfter und Strick bei mir zu behalten und dann zu beruhigen. Der Bauer fand sofort lautstark: „Da muss eine Kette drauf! Die bringt dich noch um…!“ – Und das ist oft so ganz unser Menschen-Muster, vor allem wenn wir nicht genau hinschauen, warum Dinge so sind wie sie sind. – Wir fügen mehr Druck hinzu. Wir versuchen, uns „Sicherheit“ durch mehr Kontrolle und mit Ausrüstungsgegenständen zu verschaffen – und eine Illusion von Dominanz über die Situation.

Rückblickend kann ich sagen, ich habe, seit Tina bei mir ist, fortwährend Druck abgebaut. Sie hat schon ziemlich Araber-Temperament. Trotzdem. Kein Gebiss. Alles am Kopf ist weich gepolstert. Sattel – eher selten, obwohl das inzwischen mit Lammfellgurt gut geht. Erst jetzt fange ich langsam an, sie „Leinen“ (Tellington Körperbänder) an den Hinterbeinen spüren zu lassen. In der Arbeit machen wir kurze Einheiten. Viel Kopfarbeit. Biegung, Balance, Spaziergänge. Seit ich sie besser kenne, merke ich deutlich, wenn es „genug“ ist. – Es ist keine Widersätzlichkeit, keine Unart, wenn sie das zeigt. Sie ist dann einfach an der Stelle, die ihr traumatisiertes System gerade jetzt schafft. Manchmal mache ich dann noch ein wirklich ganz klitzekleines Bisschen weiter. Sie kann die Erfahrung machen: ich schaffe das – und ich werde gehört. Und sowieso gibt es Lob en masse! Auch Futterlob. Kleine Möhrenstückchen liebt sie. Damit habe ich eine Möglichkeit, die Übung angenehm(er) für sie zu machen. Für alle Besorgten: die kaut sie auch ordentlich, keine Gefahr der Schlundverstopfung, und natürlich passe ich auf 😉

Auch das darf sie jetzt lernen. Mit den Menschen arbeiten kann etwas Angenehmes haben. Sie lernt alles recht schnell und macht das wunderbar. Und wenn sie etwas nicht will, sich sträubt, gibt es immer einen guten Grund. Mein Job ist, den zu erkennen und ihr zu zeigen, dass sie in Sicherheit ist – ihr „safe place“ zu sein.

Warum ich das schreibe? – Zum einen bin ich wirklich stolz auf unsere kleinen Erfolge. Und für alle Mitlesenden ohne Pferde: Bei uns Menschen funktioniert es ja genauso! Traumatisierte Systeme dürfen erstmal kleine Schritte machen. Lob bekommen. Sich über ihre kleinen Erfolge freuen.

Also:
Druck rausnehmen. Raum schaffen. Kleine Schritte. Große Freude!


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von Claudia Neumann

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